Die Mutprobe (Stangenroth)

Als es „in der guten alten Zeit“ noch viele Spinnstuben gab, hatte man sich an den langen Abenden viel zu erzählen, mit Vorliebe auch Schauergeschichten.

Eines Abends waren in der Stangenrother Spinnstube Spukgeschichten an der Reihe. Ein Mädchen des Dorfes ließ sich jedoch von den gruseligen Phantastereien nicht beeindrucken. Es lachte über alle Geschichten und behauptete felsenfest, keine Furcht zu kennen. Daraufhin beschloß man, von der tapferen Maid eine Mutprobe zu fordern:

Sie solle auf dem Friedhof ein Kreuz holen, dieses in der Spinnstube vorzeigen und es dann wieder zurücktragen und in den Boden einsetzen. Inzwischen war es schon fast Mitternacht geworden und ein heftiger Sturm heulte in den Bäumen. Die „Voraussetzungen“ für eine Mutprobe waren also gegeben:

Das tapfere Mädchen schritt tatsächlich in die finstere Nacht hinaus und nach kurzer Zeit tauchte es mit einem großen Holzkreuz in der Spinnstube auf. Man war über dieseKaltblütigkeit sehr erstaunt, noch mehr, als es lachend den Saal verließ, um das Kreuz wieder einzusetzen. Auf dem Friedhof jedoch wurde ihre Schürze in das Setzloch mit dem Kreuz eingeklemmt und mit in die Tiefe gezogen. In diesem Moment erschrak das Mädchen so sehr, daß ihm das Blut in den Adern erstarrte, denn es glaubte, von der Hand eines Toten festgehalten zu werden.

Die sonst so Mutige bekam einen Herzschlag und sank tot am Grab nieder.

Als das Mädchen nach einer geraumen Zeit nicht zur Spinnstube zurückgekehrt war, eilte man auf den Friedhof und sah das Unglück. Von dieser Stunde an hatte die Spinnstubenjugend Angst vor Spukgeschichten.

Quellennachweis und Anmerkungen

Lisiecki, Josef; Hrsg. Landkreis Bad Kissingen; 1982.

  • Vom Bayerischen Staatsministerium für Unterricht und Kultus durch Entschließung Nr. A/11-12/3484/83 vom 29.03.1983 zum Gebrauch an Volksschulen lernmittelfrei zugelassen. Nachdruck – auch auszugsweise – nur mit Quellenangabe gestattet.